Die letzte Runde


Die Suche nach Erlösung trieb Maximilian Hecker in die Arme einer Prostituierten. Seine siebte Asien-Tournee war gerade zu Ende gegangen, Hecker irrte allein durch das nächtliche Tokio, durch Shibuya, das Vergnügungsviertel, bis an den Fuß des Dogenzaka-Hügels, wo Nutten und Animateure im Neonlicht schreiend auf Kunden warten. Da stand sie. Und bot ihm einen Blowjob an. Ein glücklicher Zufall. Denn so hatte er das Schlusskapitel für sein erstes Buch, so ergibt das alles am Ende einen Sinn.

"Ich war traumatisiert nach dieser Nacht", sagt Maximilian Hecker. Vier Jahre ist das jetzt her. Hecker sitzt am Fenster seiner Wohnung in Mitte. Sein Blick wandert unruhig durch das Zimmer, in der einen Ecke die Küche, daneben ein Klavier, ein Schreibtisch, darauf eine Vase, in der drei Rosen stehen, neben dem Fenster ein Regal mit DVDs: Wong Kar-Weis "In The Mood For Love" und mehrere Staffeln "Sex And The City". Draußen rauscht der Verkehr über die Torstraße. Hecker schließt das Fenster.

Er will erklären, was es bedeutete, dass er den Blowjob ablehnte, damals in Shibuya, dass er die Frau nur küsste und umarmte und dafür viel Geld bezahlte. Er will erklären, was das alles mit seiner Musik zu tun hat, denn in seinem Buch geht es um ihn selbst, um einen Musiker also, den die Fans verehren, dessen Gesicht auf Titelblättern von Magazinen zu sehen war: "Dogenzaka war der Ort, an dem ich versucht habe, nein … warte, ich hab’s gleich … an dem ich in einer Sackgasse Vollgas gegeben habe, nein … Fuck! Warum kann ich mich nicht ausdrücken!" Pause. Hecker hat sich jetzt total verrannt. Er weiß nicht mehr weiter. Text weg. Er schnauft. "Ich krieg's einfach nicht hin. Meistens."

In seinem Buch hat er geschrieben: "Nähe, Alter, Nähe!" Und dass die Frau seine Wunden heilte, "allein durch ihre Berührung".

"Ich bin gerade nicht gut in Interviews", sagt er. "Ständig verzettle ich mich. Manchmal habe ich das Gefühl, ich will so meine Karriere kaputt machen, damit ich endlich meinen Frieden habe."

Im Grunde geht es in seinem Buch genau darum, wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der nach Ruhe sucht, nach einem Zuhause, nach einer Frau – nach, wie Maximilian Hecker es nennt, Erlösung. So eine Geschichte muss zwangsläufig vom Scheitern handeln. "The Rise And Fall of Maximilian Hecker" hat er das Buch genannt.

Hecker springt auf, ist in zwei Sätzen am Schreibtisch bei seinem Laptop, bittet, vorlesen zu dürfen, was er sich notiert hat zu der Nacht im Rotlichtviertel Dogenzaka, er liest: "Der letzte Notanker eines gewaltsamen Versuches einer Verschmelzung mit dem Asiatischen an sich und auf der anderen Seite die Reinheit und Schönheit eines echten Liebesgefühls ... Dogenzaka ist der Ort geworden, der das Trugbild der Glückseligkeit versinnbildlicht."

Trugbild der Glückseligkeit. Darauf muss man erst mal kommen.

Wenn Hecker auf so etwas kommt, dann macht er es zum Titel eines Albums: "Mirage Of Bliss". Es ist sein siebtes.

Hecker setzt sich wieder ans Fenster. "Wenn das Album jetzt floppt, dann war’s das", sagt er. Dann muss er Hartz IV beantragen. Oder sich einen Job suchen. Vielleicht wieder als Pfleger arbeiten, das hat er gelernt. Vor ein paar Monaten hat er eine Weile ehrenamtlich in einem Altenheim in Prenzlauer Berg gearbeitet, wollte wissen, wie schlimm es wäre, nicht mehr Musiker zu sein.

"In Deutschland verkaufe ich seit Jahren kaum noch Platten", sagt Hecker. Dass das neue Album auf Amazon in die Top 20 der Downloadcharts einstieg, das bedeutet heutzutage nicht viel. Er hat ein paar Einnahmen von Konzerten und das Geld von der Gema. Damit, sagt er, könne er zumindest die Miete bezahlen. Manchmal verdiente er ein bisschen dazu, wenn er seine Musik für einen Werbespot verkaufte. Sein Erspartes hat er für die Aufnahmen des Albums ausgegeben. "Vielleicht ist das die letzte Runde für mich", sagt er. "Meine Fans in Asien werden das nicht verstehen." Wie kann er, ein Popstar, pleite sein?

2003 hatte das Goethe Institut ihn zu einer Welttournee eingeladen. Er reiste auch nach Tokio und Osaka, nach Hongkong, Shanghai und Peking. Ein halbes Jahr zuvor war bereits ein Label für Independent-Musik aus Südkorea auf Hecker aufmerksam geworden und hatte seine ersten beiden Alben lizensiert.

Hecker lebte damals bereits in Mitte. Er war aus München, wo er seinen Zivildienst absolvierte, nach Berlin gekommen, um an der Charité Krankenpfleger zu werden. Er kam, bevor Easyjet die Touristen in Massen herflog, stand mit einem Kassettenrecorder auf dem Hackeschen Markt vor einem Café, das Rosental hieß, und sang.

Als das Label Kitty Yo, das auch Peaches, Gonzales, Kante und Jeans Team entdeckte, seine erste Platte, "Infinite Love Songs", veröffentlichte, kürte die Musikzeitschrift Spex sie zum Album des Monats; die New York Times wählte es unter die zehn besten Alben des Jahres 2001. Hecker wurde ein bisschen berühmt. Er ging auf Europatournee. Sein zweites Album "Rose" nahm der Produzent von Depeche Mode auf.

Viel mehr gibt es über Heckers Karriere in Europa nicht zu berichten. Er ging noch ein paar Mal auf Tour, aber Universal wollte ihn nicht, als die Plattenfirma 2007 das Label V2 Records übernahm, wo Hecker mittlerweile unter Vertrag stand. "Ich bin hier einfach kein Geschäft mehr", sagt Hecker," für niemanden." Seit 2010 veröffentlicht er seine Platten selbst.

Auf dem Cover des neuen Albums ist sein Gesicht zu sehen, ganz nah, der melancholische Blick, die scharf geschnittenen Züge, der gestutzte Vollbart, das Haar, das schief über der Stirn liegt. Hecker leuchtet auf dem Cover milchig-orange, als sonne er sich im Abendrot. Seine Musik klingt wie dieses Bild.

Vielleicht erklärt das auch das Problem, das die Deutschen mit Hecker haben. Er ist romantisch, durch und durch, und am oberen Ende der Romantikskala steht der Kitsch. Der ist schwer auszuhalten, wenn Ironie nicht als Gegengewicht für Balance sorgt. "Die Ostasiaten haben anscheinend keine Berührungsängste", sagt Hecker.

Vielleicht hat das mit einer Kultur zu tun, die geprägt ist von Selbstdisziplin und Hierarchie, vom Verzicht auf Individualismus im Alltag. Vielleicht ist dann der Drang größer, sich in Fantasiewelten zu flüchten. "Da ist keine Angst vor großen Gefühlen", sagt Hecker. "Aber bei Europäern ist das doch eigentlich ganz ähnlich, die schauen sich auch ‚Vom Winde verweht‘ an."

Hecker schlägt sich mit der Hand auf den Oberschenkel. "Fuck!", ruft er, springt auf und rennt zum Kühlschrank. Während er Entschuldigungen murmelt, nestelt er ein kleines Paket Kautabak aus einer Dose und schiebt es unter die Oberlippe. "Ich schwafel nur Mist", sagt er, als er sich wieder auf den Stuhl fallen lässt. "Immer soll ich in ein paar Sätzen die asiatische Kultur erklären. Ich kann sie aber nicht erklären. Ich kann nur vereinfachte Antworten liefern, die auf der Grenze zu politischer Unkorrektheit sind, damit die Leute irgendwas haben."

Hecker hat ständig das Gefühl, dass die Leute etwas von ihm wollen. Dieses Buch zum Beispiel. Auch wenn es vielleicht eher umgekehrt ist und Hecker vielmehr etwas von den Leuten will: gehört werden, gelesen werden, bewundert werden. Er hat all die Jahre, die er durch Asien tourte, Tagebücher geschrieben. Sorgsam gebunden stehen sie in seinem Bücherregal.

Er habe das mal ausprobieren wollen, Schriftsteller zu sein. Er kannte David Schumanns "Tokyo Diaries" und Jens Friebes "52 Wochenenden". Wenn andere ihre Tagebücher veröffentlichen, dachte er, kann ich das auch.

An diesem Tag leuchtet nichts an Hecker wie auf dem Albumcover. Im harten Morgenlicht sind die ersten grauen Haare in seinem Pony zu erkennen. Er ist gerade 35 Jahre alt geworden. "Irgendwann bin ich wohl zu alt, um ein Teenageridol zu sein", sagt er, "noch funktioniert es in Asien, aber es ist kein Spaziergang."

In Heckers Buch kann man lesen, dass es das wohl auch nie war. Er sagt, er habe es auch deshalb geschrieben, um mit diesem Klischee Schluss zu machen: Hecker, der Megastar. "Stimmt ja gar nicht", sagt er. "Zu meinen Konzerten kommen in Asien vielleicht 400 Leute, im Extremfall 800."

Doch was bleibt, sind diese Bilder: Hecker in einer Menge verzückt dreinblickender Teenagermädchen; Hecker, der Autogramme gibt auf ihm sehnsüchtig hingestreckte CDs, an seiner Seite Typen in Uniform, die die Mädchen auf Abstand halten; Hecker mit Reh-im-Scheinwerfer-Blick vor Dutzenden Digitalkameras.

Das sind Ikonen des Popstar-Seins. "Aber diese Bewunderung kann man nur ernst nehmen, wenn man völlig Banane im Kopf ist", sagt Hecker, "die gilt einem Bild von mir, die macht mich nicht stolz, die ist eher ein Stressfaktor."

Eigentlich steht Hecker permanent unter Stress. Wenn er den Fans so nahe kommen muss, wie nach den Konzerten in Asien; wenn er auf der Bühne steht; wenn er eine Frau trifft, die ihm gefällt; wenn er Interviews gibt. "Da darf ich nicht ich sein", sagt er, "da muss ich irgendwie Popstar sein."

Man sieht ihm das nicht an auf der Bühne, als er sein Buch zum ersten Mal in einem kleinen Club in Mitte vorstellt. Man bemerkt es höchstens an seinem unruhigen Blick, der nur kurz an dem Mädchen mit asiatischen Gesichtszügen hängenbleibt, das jemand vor seinem Auftritt zu ihm hinschiebt. Sie lächelt. Er nickt. Dann schleicht er hinter das DJ-Pult, als wolle er sich verstecken. Er legt Travis auf, "Why does it always rain on me", Teeniedepression, dann "Mrs. Robinson", Sehnsucht, dann Björk, Erlösung?

Hecker lässt keines der Lieder zu Ende laufen, die Übergänge sind brutal, als ob ein Kind am Regler eines alten Radios dreht. Aber es stört niemanden. Der Raum ist so gut wie leer. Auf dem Boden klebt Konfetti, an der Decke dreht sich eine Diskokugel. Ein Club wie ein Jugendkeller. Hecker dreht Dylan auf.

"Jede Art von Verstellung bedeutet Stress für mich", hat er am Tag zuvor in seiner Wohnung gesagt. Nach der Nacht mit der Prostituierten machte er Schluss damit. Er schloss sich in seiner Wohnung ein, spielte und sang und zeichnete alles mit einem Raummikrofon auf, ohne den Zwang zur Perfektion, aufgenommene Straßenmusik. War das die Erlösung? Befreiung zumindest, auch wenn die Kritiker durchaus irritiert waren vom unfertigen Klang der Platte, die Hecker in Eigenproduktion herausbrachte.

Hecker pult den Kautabak unter der Lippe hervor und wirft ihn in den Mülleimer. Romantik, sagt er, das ist eben nicht der Sonnenuntergang oder das Candlelight-Dinner. Das ist Kurt Cobain, der sich mit einer Schrotflinte den Kopf wegschießt. "Romantik", sagt Hecker, "ist eine Persönlichkeitsstörung von jemandem, der sich in der Gegenwart nicht wohl fühlt und die Tendenz zur Flucht hat." Wenn man so will, flieht er gerade ein letztes Mal nach vorne.

Ein Zurück gibt es auch nicht mehr. Das Café Rosental, vor dem er saß und spielte, ist verschwunden, Tommy Hilfiger eingezogen. "Mir ist das scheißegal", sagt Hecker, die Hostels und die Flagship-Stores, die Bubble-Tea-Läden und die Cafés, in denen immer Happy Hour ist.

Hecker geht nur selten nach draußen. Er sitzt lieber hier in seinem Zimmer, an seinem Klavier, wo ihn niemand hören kann. "Ich mache Musik ja eigentlich nicht für andere", sagt er. "Sie muss mich erlösen. Wenn sie das nicht tut, dann ist es völlig egal, ob ich eine Millionen Platten verkaufe. Wenn ich nichts fühle, habe ich versagt."

In diesem Zimmer hat Hecker auch einen Song über die Nacht in Shibuya geschrieben. Er nannte ihn "Nana", wie die Frau, die er in den Armen hielt. Im Video dazu schweift die Kamera durch sein Zimmer, über die Vase mit den drei Rosen, über ein Rotweinglas auf dem Klavier, über ein Plattencover, auf dem John Lennon und Yoko Ono stehen, nackt. Hecker hat seinem Tiefpunkt einen Sinn gegeben, den er für angemessen hält. Lennon und Ono. Hecker und Nana. Darunter macht er es nicht.