Ungebremst ins Schattenreich


Knapp zehn Jahre ist es her, dass Maximilian Hecker sein erstes Album veröffentlicht hat. Mittlerweile ist der Berliner Singer-Songwriter beim sechsten angelangt und hat verschiedene Soundlandschaften durchwandert. Neben akustischen Sehnsuchtsliedern und epischen, orchestral anmutenden Hymnen gab es hin- und wieder mal auch verzerrte Gitarren.

Trotzdem wird - wenn das Gespräch auf Maximilian Hecker kommt - noch immer die Geschichte vom traurigen, jungen Mann erzählt, der einsam auf dem Hackeschen Markt in Berlin voller Inbrunst gegen Wind und Wetter ansingt. Obwohl Hecker große Erfolge in Europa und vor allem Asien feiern konnte, wird dieses Straßenmusikerbild bewahrt und weitergegeben, als wäre es zwingender Bestandteil für ein ehrliches Portrait des Künstlers.

Das wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern, denn mit dem neuen Album "I Am Nothing But Emotion, No Human Being, No Son, Never Again Son" kehrt Maximilian Hecker zum Ausgangspunkt seiner Karriere zurück. Und darüber hinaus auch zum Ursprung seines Schaffens, zu seiner Gefühlswelt.

Kurz vor dem Weinen

Maximilian Hecker steht in einem blauen Mantel, der an den eines heimkehrenden Soldaten erinnert, in einer Berliner Bar. Er ist berauscht von Alkohol, Schlafentzug und der wunderschönen Frau ihm gegenüber. Er fühlt sich nicht mehr wie ein menschliches Wesen, sondern sein Ich scheint durch Raum und Zeit zu schweben, sich ganz in seinen gegenwärtigen Emotionen aufzulösen.

Als er in der Früh nachhause kommt, schreibt er die Stimmungen dieser Nacht als Gedicht nieder und sendet es per SMS an seine Festnetznummer. Eine Computerstimme gibt den Text wieder, den Hecker auf seinem Anrufbeantworter aufzeichnet. Und schon ist der Grundstein für sein neues Album gelegt. Denn der Eröffnungstitel "Blue Soldier Night" besteht lediglich aus einer entfernten Melodie, seltsam summenden Geräuschen und jener künstlichen Stimme, die das Gedicht jener magischen Nacht rezitiert. Die Zeile "I Am Nothing But Emotion, No Human Being, No Son, Never Again Son" wird auch gleich Titel des Albums, das pure Emotion zum Inhalt hat.

Um nach langer Entfremdung durch das Musikbusiness und den daraus resultierenden, korsetthaften Vorstellungen wieder Zugang zur den eigenen Gefühlen zu erlangen, musste Maximilian Hecker die Freude am Musikmachen wiederfinden und seinen Perfektionismuswahn ablegen.

Maximilian Hecker: "Ich hatte immer die klischeehafte Vorstellung, alles müsste richtig gut gespielt und aufgenommen sein. Erst spät kam die Einsicht, dass ich erst dann etwas als perfekt empfinde, wenn ich bei Aufnahmen oder Konzerten frei war. Zum Beispiel, wenn ich während eines Songs kurz vor dem Weinen bin, dann klingt das natürlich scheiße, rein technisch gesehen. Weil man dann ... Uhhrgh [Anm.: simuliert emotionales Schnaufen kurz vor dem Heulkrampf] Aber dann denke ich, ja! Das ist es! Das Gefühl, danach hab ich doch gesucht. Das war irgendwo in mir versteckt und durch Barrieren und die Ratio verdeckt gewesen. Jetzt ist es da, wie eine Knospe, eine Blüte, die ganz zart ist. Das ist doch etwas Perfektes."

Die Suche nach dieser Freiheit ist auch der Grund dafür, dass Maximilian Hecker sich wieder auf die Straße gestellt hat, und warum er sich in seine Wohnung, sein "heiliges Verließ", wie er es im Song "Holy Dungeon" nennt, zum Aufnehmen zurückgezogen hat.

Eben um mit Freude und ohne selbst auferlegte Erwartungen Musik zu schreiben. Einzig mit Mikrofon, Klavier und Gitarre wird aufgenommen. Man hört den Boden knarren, die Pedale des Pianos klappern, den Stuhl vor dem Klavier quietschen, das Rutschen auf den Gitarrensaiten, jeden kleinen Wackler beim Intonieren und manchmal auch die Geräusche der Großstadt, die von außen in den Raum dringen.

Maximilian Hecker: "Ich habe am Schluss sogar das Fenster bewusst aufgemacht, weil ich dachte, ich will noch ein paar Geräusche dazu haben. Aber sonst hat es eigentlich hauptsächlich mit diesem Raummikrofon zu tun, dass man alles hört. Ich hatte meistens für Gitarre, Gesang und Klavier nur eine Spur und da kann man im Nachhinein ja nicht mehr viel machen."

Kindliche Essenz

Heckers Stimme klingt von Beginn an wie von einem anderen Stern, als ob er uns aus einer fremden Welt Botschaften schickt. Dazu schweben simple Klavierlinien im endlos scheinenden Raum und verschwimmen dabei nur selten mit Orgelsounds oder synthetischen Streichern. Hin- und wieder erklingen zarte Glöckchen zur gezupften oder vorsichtig geschlagenen Gitarre. Das alles wird mit einer Gelassenheit und natürlichen Art vorgetragen, die trotz aller Berechenbarkeit und dem bekannten Hecker’schen Pathos wirklich berühren kann. Die sich langsam chromatisch entwickelnde Pianolinie in "Open Arms Of Gold" verbindet sich mit leisem Rauschen der Großstadt, während das traurige Timbre von Hecker mit einer kurzen Akkordzerlegung verschmilzt. Und nach weniger als zwei Minuten ist dieser musikalische Tagtraum auch schon wieder vorbei. Eines der Highlights ist das nicht wesentlich längere "Glaslight", in dem das Klavier derart roh und nackt klingt, dass sich Parallelen zur Intensität des jungen Tom Waits auftun. Ebenso charmant ist der ein wenig verwurschtelte Rhythmus, der sich bei "Nana" durch das Zusammenspiel von Klaviermelodie und geschrammelter Gitarre ergibt, wobei hier wohl der schönste, mehrstimmige Refrain des Albums vorkommt.

Selbst wenn bei Songs wie "Messed-up Girl", "The Greatest Love Of All" oder "Grandiosity" ein klassisches und vielleicht auch nach Kalkül klingendes Arrangement durchschlägt, liegt die Kraft der Platte im sehr intuitiv Geschriebenen und Gespielten. Denn diesmal hat sich Maximilian Hecker keine Zeit gelassen, zu reflektieren oder umzuarrangieren.

Maximilian Hecker: "Oft kam eine Idee, als ich am Klavier improvisiert habe. Früher hätte ich dann eine Woche lang hin und her überlegt, noch einen Teil dazu zu machen oder zu streichen. Und diesmal habe ich eben die erste Idee genommen. Ich habe ja das Gefühl, dass ich von der Seele her eigentlich sechs Jahre alt bin und das gut kaschieren kann. Wenn ich Musik mache, bin ich oft sechs Jahre alt und ich wollte das jetzt nicht mit dem zweiunddreißigjährigen Hecker alles wieder in eine Form bringen. Sondern die Musik des Sechsjährigen einfach so stehen lassen."

Textlich sind die Inspirationen jedoch die eines Erwachsenen, oder zumindest Jugendlichen geblieben: es geht hauptsächlich um Beziehungen zu Frauen. Nicht zu verwechseln mit Liebe, wie der deutsche Songwriter klar macht.

Maximilian Hecker: "Meines Erachtens ging’s fast nie um Liebe bei mir, sondern eher um die Unfähigkeit zu lieben und dennoch die Sehnsucht danach zu verspüren. Also ging es eher um Gefühle und die Spiegelungen, oder wie soll man sagen... Also mit Liebe hab ich nichts am Hut. Das ist einfach das Ding. Tja, vielleicht kann ich die Liebe nicht sehen, weil ich nur mich sehe, oder?"

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Es ist schon seltsam, dass Maximilian Hecker im Unterschied zu seiner neuen Platte im Interview recht unruhig wirkt, wobei er seine Nervosität mit witzigen Einlagen zu verdrängen versucht. Auch das kolportierte Gesamtbild des "neuen Hecker" scheint paradox, schließlich gibt es laut dem Künstler selber kein Konzept hinter dieser Platte. Demnach ist auch schwer abzuschätzen, wie viel Wahrheitsgehalt sein "Anti-Narzissmus" besitzt, habe sich der Berliner doch deshalb die Haare und Bart wachsen lassen und sich auch von der Mode vollkommen abgewandt, indem er nur mehr in Jogginghosen und zerbeulten Pullis unterwegs war. Zum Interview erscheint der Sänger dann doch recht adrett.

Maximilian Hecker: "Ich hab jetzt einen Barttrimmer, ne? Das ist eine Art inkonsequente Verweigerung des Narzissmus. Oder in der Verweigerung des Narzissmus wieder narzisstisch werden. Nee, aber eine Jogginghose trage ich häufig noch. Es ist ja nicht dieser 'ich bin arbeitslos und gehe morgen zum Bäcker-Look, sondern es ist eine Adidas Original. Also in gewisser Weise könnte man mir das auch übel auslegen, hier mit einer Beckenbauer Pant zu kokketieren. Oder? Na ja, alles nur fake."

Auf Platte ist Maximilian ehrlicher, rauer und daher auch spannender, als auf seinen bisherigen Alben. Vielleicht ist es die unmittelbare Direktheit der Aufnahme, das Sich-weit-aus-dem-Fenster-Lehnen, das Fallenlassen der emotionalen und musikalischen Hüllen, was dem sechsten Studiowerk eine gewisse Magie verleiht. Was sich dabei auf der lyrischen Seite abspielt, ist einerseits offensichtlich, andererseits schwer einzuschätzen. Schließlich speisen sich auch gegen Ende des Interviews die Antworten von Hecker mit zynischem Humor.

Maximilian Hecker: "Nee, aber warte mal, die Themen des Albums muss ich natürlich jetzt noch aufzählen für den Vertrieb. Auf jeden Fall so irgendwie Schattenreich, ne? (lacht) Klingt doch gut. Lassen wir das doch mal so stehen. Nein, also bei dieser Platte geht es schon auch um das Tief-in-sich-Eindringen und sehen, dass da neben dem schönen Gefühl und Glück auch noch die Angst ist. Denn je mehr man die Ich-Struktur zerstört, desto tiefer kommt man ja ins Schattenreich, wo es kein Auffangnetz mehr gibt."

In diesem Sinne ist "I Am Nothing But Emotion..." vielleicht wirklich eine Reise in diese düstere Welt ohne Sicherheitsnetz. Vielleicht bekommen wir bei seiner derzeitigen Solo-Tour mehr Einblicke in Maximilian Heckers Wirklichkeit.