Kopfhörer-Katharsis


Mit den Worten "Es geht um die Sehnsucht danach, die Last des Lebens – die sich durch den Körper bzw. die Schwerkraft darstellt – abzuwerfen", erklärte Maximilian Hecker im Januar 2005 sein drittes Album "Lady Sleep". Er ergänzte: "Ein Zustand, den man als Mensch ja schon einmal erlebt hat: vor der Geburt. Es geht um die Sehnsucht, diesen Zustand wieder zu erreichen." Isoliert von Heckers Musik betrachtet, konnte vermutlich nicht jeder etwas mit dieser Aussage anfangen. Wahrscheinlich sogar die wenigsten. Man mochte den Künstler wahlweise einen "verkopften Philosophen" oder aber ein "Genie mit gutem Verhältnis zur direktenNachbarschaft" nennen. Sobald man allerdings seine Musik hörte, füllten sich die bis dahin doch eher abstrakten Worte mit spürbarem Inhalt. Und nachvollziehbarem Sinn.

Theodor W. Adorno (1903-1969) hätte Maximilian Heckers Songs nicht nur verstanden, sondern vermutlich auch sehr gemocht. Denn der Philosoph äußerte einmal: "Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter." Und genau dieses Umfangensein ist es, was Heckers Musik ausmacht: ein Umschwärmen, ein Wattieren, ein Einlullen, ein Illuminieren, ein Mitnehmen. In einen höheren Zustand. Seine Musik formt einen Kreis, der durch in Harmonie und Wohlklang gereichte Hände geschlossen wird - und die Zeitlosigkeit in ihrer Mitte begrüßt. Wie sagte Aristoteles: "Was ewig ist, ist kreisförmig, und was kreisförmig ist, ist ewig." Passt hier eigentlich ganz gut.

Maximilian Hecker ist also gar nicht der Tränenpalast-Architekt, den viele in ihm sehen. Er baut viel eher ein sanft gefedertes Cape Canaveral für die Seele, die durch seine Musik eine Metamorphose zum schwerelosen Astronauten-Glühwürmchen erlebt. Und zumindest eine Albumlänge lang erahnen kann, wie es ist, wenn Raum und Zeit das persönliche Koordinatensystem verlassen.

Am 22. September ist Heckers neuestes Werk erschienen – "I’ll Be A Virgin, I’ll Be A Mountain" (V2 / Rough Trade). Wieder eine zart orchestrierte Hypnose aus Klavieraquarellen, Gitarrenidyllen und Streicherpanoramen; hier und da eine regenbogengleiche Erscheinung: ein Glockenspielkristall, eine nestwarme Klarinette oder ein würdevolles Waldhorn. Neu ist, dass nun auch Heckers kraftvolle Bruststimme zum Einsatz kommt – und ein gutes Gegengewicht zu seinem hauchzarten, pastellfarbenen Kopfstimmen-Timbre bildet. Man liest, er habe jetzt Bob Dylan für sich entdeckt und dieses Gerücht scheint sich gleich doppelt zu bestätigen: Zum einen werden in "Velvet Son" Themen aus "Sad-Eyed Lady Of The Lowlands" liebevoll aufgegriffen, zum anderen könnte die Akustikgitarrenzauberei "Messed-Up Girl" von His Bobness höchstpersönlich stammen. Die Klangästhetik der Ballade "Your Stammering Kisses" (Hammond-Orgel!) verbeugt sich zudem vor den späten Sechzigern und frühen Siebzigern. In der hinreißenden ersten Single, dem dezent beatlesken "Silly Lily, Funny Bunny", hat sich sogar ein nostalgisches "Love is all you need!" eingeschlichen. "Snow White" schwebt traumverloren in gleißend hellen Sphären, "The Saviour" offenbart das schönste Streicher-Arrangement der ganzen Platte und "Feel Like Children" hält einen goldenen Satz für's Poesiealbum parat: "You’re not mine / But I am yours."

"Oberflächlich betrachtet, ist dieses Album wohl die positivste Platte, die ich bisher gemacht habe", verkündet Maximilian Hecker. Im Grunde gehe es in all den Liedern, die er jemals geschrieben habe, ausschließlich um eins: Glückseligkeit. "Meine Vorstellung von Glückseligkeit", erklärt er, "mag sich von der anderer Leute unterscheiden und bezieht sich nicht auf Spaß, Lachen oder Tanzen. Sondern auf die Befreiung von der Last, die das Leben birgt. Da sind dann die Metaphern des Todes oder der Apokalypse lediglich Bilder für den Übergang zum Glück. Nichts an ihnen ist morbide oder traurig gemeint."

Der amerikanische Dirigent Yehudi Menuhin (1916-1999), nebenbei einer der größten Violinenvirtuosen des 20. Jahrhunderts, hätte Heckers Musik bestimmt auch gemocht. Oder zumindest einen Seelenverwandten in ihm erkannt. In seinem Buch "Kunst als Hoffnung für die Menschen" konstatierte Menuhin nämlich: "Glückseligkeit und das Streben danach ist ein edles Ziel der Menschheit, nirgendwo ist es greifbarer als in schönen Werken – besonders in der Musik, die an sich Abstraktion und Sublimierung aller komplexen und widerstreitenden Faktoren ist." Diese Greifbarkeit zu erschaffen, gelingt Maximilian Heckers auf seinem neuen Album, "I’ll Be A Virgin, I’ll Be A Mountain", bravourös. "Die beiden Metaphern von Berg und Jungfrau", erläutert er, "enthalten meine Sehnsucht nach Ewigkeit und Reinheit. Entscheidend ist die Möglichkeit, in der Kunst diese Zustände vorwegnehmen zu können. Denn das Erreichen jenes statischen Zustandes von Reinheit und Ewigkeit ist mir in der realen, dynamischen Welt zwar nicht vergönnt – doch diese Dynamik kann ich mithilfe meiner Lieder überwinden: indem ich mein lyrisches Ich diesen Zustand der Statik erleben lasse."

In der Philosophie heißt der Zustand der Glückseligkeit "Eudaimonie". Das stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet gleichzeitig eine von Sokrates begründete Lehre. Aristoteles (384-322 v.Chr.) führte diese fort und erachtete die Glückseligkeit als höchstes Gut, weil sie um ihrer selbst willen erstrebt wird – und nicht bloß Mittel zum Zweck ist: "Glückseligkeit ist das vollkommene und selbstgenügsame Gut und das Endziel des Handelns." Und die Ratio – das Merkmal, das den Mensch von anderen Lebewesen unterscheide – sei der Motor des Tuns, das zum Zustand der Glückseligkeit führe. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Maximilian Hecker seine Stücke stets in nüchterner, ausgeglichener Stimmung schreibt. Denn starke Emotionen (Wut, Verzweiflung, Verliebtsein etc.) würden – wie er in einem Interview mit einem bekannten österreichischen Radiosender verriet – doch nur bewirken, dass man sich nicht auf das Schreiben konzentrieren könne.

Und das Ergebnis dieses Schreibens – was ist es nun? Weit entfernt von naturtrüber Tränenpalast-Architektur. Sondern viel eher eine Art Bewusstseinserweiterung. Kopfhörer-Katharsis. Und immer wieder: ein Umschwärmen, ein Wattieren, ein Einlullen, ein Illuminieren, ein Mitnehmen. In einen höheren Zustand.